Caritasverband lädt Altenpflegeheime ein, frühzeitig die nötigen Schritte einzuleiten und die Chancen rechtzeitig zu nutzen
Augsburg. 21.09.2022 (pca). Genauer hinschauen, wer was in der Pflege macht. So lautet das Grundprinzip des Personalbemessungsinstruments. Das Ergebnis: Pflegefachkräfte leisten Tätigkeiten, für die sie überqualifiziert sind, und haben deshalb zu wenig Zeit für das, wofür sie eigentlich ausgebildet sind. Pflegehilfskräfte übernehmen Aufgaben, für die ihnen die Ausbildung fehlt. Fehlverteilungen und Ineffizienzen der Arbeit sind die Folge. Das führt zu Unzufriedenheit und Frust wegen Arbeitsüberlastungen. Auch die Pflege leidet darunter. Ab dem 1. Juli 2023 soll das Personalbemessungsinstrument, wie vom Pflegestärkungsgesetz II von 2016 vorgesehen, diese Mängel Vergangenheit werden lassen. Der Caritasverband für die Diözese Augsburg hat nun bei einem Fachtag das Instrument vorgestellt und ermutigt, sich frühzeitig darauf vorzubereiten.
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Die Probleme in der Pflege sind bekannt. Personal- und Fachkräftemangel, zu hohe Arbeitsbelastungen, eine hohe Fluktuation, zu geringe Attraktivität des Pflegeberufes. Verstärkt werden sie durch den demographischen Wandel. 2030 werden deshalb der Pflege 80 Prozent der dann nötigen Pflegefachkräfte fehlen. Ein weiteres Problem sind die bedarfsunabhängigen Leistungspauschalen für die Einrichtungen in der Pflege, die aber die kontinuierlich steigenden Preise nicht berücksichtigen.
Ein zentraler Ansatz zur Lösung dieser Problempyramide scheint das Pflegebemessungsinstrument zu sein. Ab 1. Juli 2023 müssen stationäre Pflegeeinrichtungen es zur Grundlage für die Ermittlung ihren tatsächlichen Personalbedarf machen. Es ist nicht einfach und bringt viele Herausforderungen mit sich, "aber es stärkt die Pflege, es hilft, bedarfsgerechter und kompetenzorientierter die pflegebedürftigen Menschen zu versorgen", so Anja Schwarz, Fachgebietsleitung Stationäre Altenhilfe des Caritasverbandes für die Diözese Augsburg e. V.
Der Caritasverband hat nun seine Mitgliedseinrichtungen bei seinem Fachtag erste Hilfen gegeben, um
sich auf entsprechende Organisationsentwicklungs-prozesse vorbereiten zu können. "Dabei geht es nicht um Einsparungen, nicht um neue Zwänge, es geht um eine Verbesserung der Pflegesituation. Die Kernfrage dabei ist, ob ein direkter Zusammenhaben zwischen Personalausstattung und Pflegequalität besteht. Das soll mit der modellhaften Einführung ermittelt werden", unterstrich Schwarz.
Das Personalbemessungsinstrument wurde vom "SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik" an der Universität Bremen in den Jahren 2017 bis 2020 in sehr detaillierten und praxisorientierten Forschungsarbeit entwickelt. Der Auftrag dazu findet sich im Pflegestärkungsgesetz II von 2018. 130.000 Pflegemaßnahmen bzw. -interventionen wurden im Rahmen des Forschungsprojektes durch begleitende "Beschattung" von Pflegekräften in ihrer alltäglichen Arbeit analysiert und dokumentiert. Gesetzlicher Auftrag war, ein bundesweit geltendes Bemessungsinstrument zu entwickeln, damit die Pflegeeinrichtungen ihre Personalausstattung bedarfsgerecht gestalten. Weitere Ziele der Forschungsarbeit waren belastbare Organisationsstrukturen und gesunde Arbeitsbedingungen.
Ergebnis ist ein umfangreiches Instrument, das den Altenpflegeeinrichtungen zunächst helfen soll, Arbeitsabläufe in Abhängigkeit von den Bedarfen der pflegebedürftigen Menschen und deren Pflegestufen mit Blick auf die jeweils dafür nötigen beruflichen Qualitätsniveaus abzustimmen.
Derzeit gilt eine Fachkraftquote für stationäre Pflegeeinrichtungen von 50 Prozent Pflegefachkräfte (3-jährige Ausbildung) und 50 Prozent Pflegehilfskräfte (angeleitete Pflegehelfer*innen, Pflegehelfer*innen mit einer 2-monatigen Basisausbildung, Pflegefachhelfer*in mit einer einjährigen Ausbildung). Die Forschung des Bremer SOCIUM Forschungszentrum haben aber nun gezeigt, dass dieser Schlüssel nicht die Wirklichkeit abbildet.
Im Rahmen der 130.000 beobachteten Pflegeinterventionen wurden 107 Arbeitsfelder in der Pflege analysiert und auch den verschiedenen Qualifikationsanforderungen gemäß den Pflege- und Ausbildungsvorschriften zugeordnet. Hauswirtschaftliche Unterstützung wie auch die Alltagsgestaltung oder Hilfen beim Aufstehen, der Körperpflege oder Nahrungsaufnahme z. B. können oftmals von Pflegehilfskräften geleistet werden. Bewegungsförderung, Biographiearbeit, Wundpflege wie auch das Medikationsmanagement und die Pflegeplanung dürfen nur von Pflegefachkräften geleistet werden.
Das Ergebnis war ernüchternd: "Für die Hälfte der Tätigkeiten, die die Pflegefachkräfte durchführen, sind keine Fachkräfte nötig. Und ein Viertel der Pflegehilfskräfte üben Tätigkeiten aus, für die sie nicht qualifiziert sind." So Thomas Kalwitzki, wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM Forschungszentrum. In dieser Fehlverteilung von Arbeitsabläufen und damit auch nicht verlässlichen Arbeitsstrukturen erkennt Kalwitzki einen wesentlichen Grund für Arbeitsüberlastungen, Unzufriedenheit und damit auch für die geringe Verweildauer von Pflegekräften in ihrem Beruf. Ein weiteres Ergebnis: Die Fachkraftquote von 50 Prozent ist, sofern er festgeschrieben ist, "falsch". Der Untersuchung zufolge läge der Bundesdurchschnittsbedarf bei 40 Prozent Pflegefachkräfte zu 60 Prozent Pflegehilfskräfte. Da die Personalbemessung für jede einzelne Einrichtung aber individuell erhoben werden muss, kann auch das Gegenteil herauskommen und eine höhere Fachkraftquote nötig sein. Die Ergebnisse der einrichtungsindividuellen Personalbemessungen haben deshalb auch für Folgen für die Personalplanung.
Sorgen, wonach ein neues Arbeitsverwaltungssystem übergestülpt werde, "braucht sich niemand machen", sagte Anja Weber vom Fachgebiet Stationäre Altenhilfe der Caritas "Es geht darum, dass Sie analysieren, ob Sie in ihrer Einrichtung die Arbeitsabläufe von den beruflichen Anforderungen her so qualitätsorientiert gestalten, dass die pflegebedürfte Person zielgerichtet und bedarfsorientiert begleitet und gepflegt wird und dass gleichzeitig Pflegekräfte nicht die Arbeit leisten müssen, für die sie eigentlich nicht angestellt sind." Weber wie Schwarz sind deshalb überzeugt, dass das neue Personalbemessungsinstrument auch helfen wird, die Pflegequalität nachhaltig zu stabilisieren und zu verbessern. "Es ist die Zeit für Veränderung und Innovation", betonte Anja Schwarz.
Dass dieser Weg zu Innovation kein einfacher Weg ist, sondern die gesamte Organisation einer Pflegeeinrichtung umfasst, machte Dr. Heidemarie Kelleter, Qualitätsberaterin des Caritasverbandes für die Diözese Köln e. V., die Ihr Projekt zur kompetenzorientierten Pflege am Fachtag vorgestellt hat, deutlich. Klare Zuordnungen von Pflegeabläufen setzen einen Wandlungsprozess der Einrichtung voraus, bei dem alle mitmachen müssten. "Viele Fragen sind zu klären, viele Arbeitsabläufe in den Blick zunehmen und abzustimmen", betonte sie. Am Ende aber werde sich der Aufwand lohnen.
Davon ist auch Kalwitzki überzeugt. "Wer es richtig anpackt, der bietet seinen Mitarbeiter*innen verbindliche Dienstpläne, belastbare Organisationsstrukturen, gesunde Arbeitsbedingungen und damit eine Arbeitssituation, die attraktiv ist. Die Bereitschaft zur Mitarbeit in der Pflege wird steigen, es werden mehr Interesse an dem Beruf haben und viele, die den Beruf verlassen haben, werden zurückkehren. Denn es liegt nicht vorrangig an der Pflege von hilfs- und pflegebedürftigen Menschen, weshalb viele aussteigen. Es sind die Rahmenbedingungen, unter denen Pflege geleistet wird."